Reisebericht Nordkorea 1999

Wir haben das Paradies gesehen

Utopia, ein (noch?) nicht existierender Ort. Und doch ist man in Nordkorea der Meinung, es gäbe ihn, diesen Ort, an dem man das Paradies erfahren könne.

Wir haben die außerordentlich seltene Gelegenheit, von Peking aus einen Vorgeschmack auf dieses Paradies zu bekommen. Wir sind gespannt auf das Land, das von sich meint, nur noch ein kleines Stück davon entfernt zu sein.

Die teilweise bis auf das Gewebe abgefahrenen Reifen deuten an, das das Flugzeug der Air Koryo, eine alte Tupolev, schon Heerscharen von Zeitreisenden in das gelobte Land transportiert hat. Die fröhlich optimistische Musik aus den Bordlautsprechern vermittelt einen ersten positiven Eindruck. Auf dem Flughafen in Pjöngjang empfängt uns das eindrucksvolle Konterfei Kim Il Songs, dem großen Führer dieses Landes, mit majestätischer Gestik in die Zukunft weisend. Staunend nehmen wir auf der Fahrt vom Flughafen in unser Wohnquartier die geringe Verkehrsdichte wahr. Grund ist nicht der Samstagnachmittag, an dem sich bei uns gewöhnlich eine merkwürdige Stille über das Land ausbreitet, sondern schlicht eine intelligente Verkehrsplanung sorgt durch eine kontinuierliche Senkung des Lebensstandards des größten Teils der Bevölkerung für freie Fahrt der wenigen Autobesitzer, in der Regel Parteikader. Jeder deutsche Autofahrer kann von derart paradiesischen Zuständen nur träumen. Die Autobahn in die Stadt ist so gut wie frei von Fahrzeugen, gelegentlich kommt uns ein Militärlaster entgegen, vereinzelt fahren Fahrräder. Das Gros der Leute allerdings ist zu Fuß unterwegs - auf der leeren Autobahn. Siedlungen, denen man diese Fußgänger zuordnen könnte, sind nicht zu entdecken. Erst seit drei Jahren ist es möglich, gebrauchte, aus Japan importierte Fahrräder, für etwa 3 Monatslöhne eines Fabrikarbeiters mit Sondergenehmigung käuflich zu erwerben. Wir sehen überfüllte Straßenbahnhaltestellen, an denen die Fahrgäste oft lange Wartezeiten in Kauf nehmen müssen, um schließlich in hoffnungslos überfüllten, nach der Wende aus Dresden importierten Straßenbahnwagen befördert zu werden. Dank blau uniformierter Verkehrspolizisten und –polizistinnen, die den kaum vorhandenen Verkehr auf den breiten Straßenkreuzungen souverän regeln und auch schon mal einen Fußgänger über eine weit entfernte Fußgängerbrücke schicken, weil eine Überquerung der Straße an dieser Stelle verkehrswidrig ist, kommen wir schließlich ohne  größere Staus in unserem Wohnquartier, der ehemaligen DDR-Botschaft, an.

An diesem Tag haben wir Glück. Bei einer ersten Stadtbesichtigung kommen wir an den großen Platz vor der übergroßen nach altem koreanischen Baustil errichteten Bibliothek, von deren Balkon der Große Führer Kim Il Song sich zu Lebzeiten hin und wieder seinem Volk gezeigt hat. Am 15. April, im Jahr 88 nordkoreanischer Zeitrechnung – der Große Führer ist im Jahre 1912 geboren – soll wieder sein Geburtstag gefeiert werden. Wir haben zufällig das Glück, die Übungen für die Geburtstagsfeierlichkeiten ansehen zu dürfen. Uniformierte Jugendliche (Jungen und Mädchen) exerzieren militärähnliche Aufmärsche auf dem großen Platz. Rote Fahnen lassen erkennen, daß dieses nordkoreanische Utopia sozialistisch sein muß. Der Alltag in diesem Land ist durch und durch von Militär geprägt. Hier ist die Welt noch in Ordnung, Disziplin scheint in diesem Land oberste Tugend zu sein. So habe ich mir in meiner Schulzeit George Orwells Nineteen Eighty-Four vorgestellt. Sattes Olivgrün ist die vorherrschende Farbe und erfährt nur durch farbige Dienstgrad- und Parteiabzeichen etwas Aufhellung.

Für den folgenden Tag ist ein Ausflug nach Kaesong an die das Land trennende Demarkationslinie vorgesehen. Für Fußgänger scheint in diesem Land einiges getan zu werden. Sogar breit angelegte Autobahnen werden in diesem reichen Land für sie gebaut. Schade nur, daß auf der 150km langen Strecke an die Grenze zu Südkorea dieses Angebot  nicht voll ausgeschöpft wird. Fahrzeuge haben auf dieser Strecke Seltenheitswert.

An der Grenze angekommen müssen unsere Wagen hinter einer gelben Linie halten, das ist Vorschrift. Nachdem wir unseren Eintritt (etwa einen ¾ Monatslohn) entrichtet haben, dürfen wir uns von einem Militärangehörigen an Hand eines Schaubildes die nordkoreanische Sichtweise des Korea-Krieges und der derzeitigen Bedrohung durch die USA anhören.

Uns werden in der entmilitarisierten Zone Räume gezeigt, in denen 1953 Waffenstillstandsverhandlungen geführt und schließlich der Waffenstillstandsvertrag mit Vertretern der UNO unterzeichnet wurden. Dazu auch hier ein Vortrag über  das Vorgehen der USA, die durch ihre militärische Präsenz in Südkorea eine Wiedervereinigung verhindern würden. Vorenthalten wird uns Überlegungen, unter welchen Vorzeichen eine von Nordkorea angestrebte Wiedervereinigung stattfinden soll. Ich stelle mir besser nicht vor, was passieren würde, wenn der Eiserne Vorhang hochginge.

Den Höhepunkt unserer Besichtigung bildet die direkte Konfrontation mit der südkoreanischen Seite an der Demarkationslinie. An einer Markierung stehen sich zwischen hellblau gestrichenen Baracken die verfeindeten nord- und südkoreanischen Grenzschützer gegenüber. Die nur ca. 5 Meter von uns entfernt stehenden Südkoreaner beobachten uns mit Argusaugen, nehmen Fotos von uns, als wären wir hochkarätige Spione. Ausländer scheinen sie an dieser Stelle der gut gesicherten Grenze  nicht sehr häufig zu Gesicht zu bekommen. Später auf der Aussichtsplattform werden wir immer noch mit Ferngläsern genau beobachtet. Keine Seite steht allerdings der anderen in etwas nach. Beide beobachten sich gegenseitig mit zahlreichen über das Gelände verteilten Videokameras. Dies ist – wir spüren es deutlich – eine der sensibelsten Grenzen der Welt.

Aus China kommend sind wir an keine Verkehrsregeln gewöhnt. Das sollen wir zu spüren bekommen. Wir wagen uns am nächsten Tag mit geliehenen Rädern in den mörderischen Verkehr Pjöngjangs. Durch auffällige Metalliclackierung sind wir für die blau uniformierten Verkehrspolizisten schon von weitem sichtbar. An einer kaum befahrenen Straßenkreuzung wird uns mit einem schwarz weißen Zauberstab und zackiger Gestik, gekoppelt mit einem durchdringenden Pfiff aus der Trillerpfeife, signalisiert, daß wir die Verkehrsregeln verletzt hätten. Wir können uns den Grund unseres verbrecherischen Vorgehens nicht erklären, denn ein Auto neben uns überquert die Kreuzung in unsere Fahrtrichtung, ohne einer Verhaftung ins Auge sehen zu müssen. Hatten wir evtl. wieder eine Linie überfahren? Wir biegen nach rechts ab und müssen so einen kilometerlangen Umweg in Kauf nehmen. Allerdings kommen wir auf diese Weise an einem wunderschönen Monumentaldenkmal (Hammer, Sichel und Pinsel, den Wahrzeichen Nordkoreas) vorbei, das der große Führer eigenhändig entworfen hat. Unsere Ordnungswidrigkeit klärt sich später auf: wir haben es versäumt, mit unseren Fahrrädern einen Fußgängertunnel zu benutzen, um die kaum befahrene Kreuzung zu überqueren. Wir nehmen an, daß diese Regelung zu unserer Sicherheit existiert. Selbst schwer beladene Fahrräder haben den beschwerlichen Weg durch den Tunnel zu nehmen, ungeachtet des Alters der radelnden Verkehrsteilnehmer. Wer solche Lasten auf dem Fahrrad transportiert, muß sie am Eingang des Fußgängertunnels entladen, dann trägt er das Fahrrad, schließlich die Lasten hinunter. Das Spiel wiederholt sich auf der gegenüberliegenden Seite. Zum Glück werden mangels Masse in dieser Stadt nicht sehr viele Lasten befördert.

Vorbei an düsteren grauen Wohnblocks, immerhin verfügen sie über Balkone, auf denen man sich der Muße hingeben kann, bewegen wir uns auf ein weiteres Denkmal Kim Il Sungs zu. Kaum stehen wir bewunderungsvoll vor dem Monumentaldenkmal, als uns schon knapp und deutlich signalisiert wird, daß wir gerade im Begriff sind, diesen heiligen Ort zu entweihen. Es ist so, als würden wir mit unseren Fahrrädern eine Kirche betreten und würden sie am Altar unter dem Heiligen Kreuz abstellen. Also stellen wir die auffällig metalliclackierten Fortbewegungsmittel in einiger Entfernung, aber immer noch unter den Augen des Führers ab und sehen den sich ehrfurchtsvoll vor ihrem Götzen verneigenden Koreanern, die keine dieser entweihenden Gerätschaften mit sich führen, bei ihren Huldigungen zu. Gruppen ziehen an dem Denkmal vorbei. Sie verneigen sich, nachdem sie vorher Blumensträusse abgelegt haben. Wer sein Geld kurzfristig im Ausland anlegen und schnelles Geld machen will, sollte hier noch schnell einen Blumenladen aufmachen, bevor das System zusammenbricht.

Einen weiteren Höhepunkt unseres 4-tägigen Aufenthalts in Nordkorea bildet ein Ausflug zur Ausstellung der Internationalen Freundschaft, etwa 150 km nördlich Pjöngjangs. Die Ausstellung befindet sich in einem Museum besonderer Art. Vor dem Betreten des monumentalen Gebäudes wird uns erklärt, das schwere Portal bestehe aus Kupfer und wiege 16 t. Die Handgriffe dürfen nur mit bereitliegenden Handschuhen berührt werden, um die Tür zu öffnen. Wir spüren, daß wir im Begriff sind, in ein Heiligtum einzutreten. Um dieses Heiligtum, deren es in diesem Lande viele zu geben scheint, nicht zu entweihen, werden uns Stoffschuhe ausgeteilt, die wir während unseres gesamten Aufenthaltes in diesem Gebäude tragen müssen. Fotoaufnahmen sind nicht gestattet, wir müssen unsere Kamera abgeben.

Es öffnet sich uns ein Gebäude mit marmorierten Wänden, hohen Decken, von denen schwere Kandelaber herunterhängen. Wir fühlen uns erdrückt und ohnmächtig.

Durch endlos lange Gänge werden wir in die Ausstellungsräume geführt. Dort sind Geschenke, die der Große Führer zu seinen Lebzeiten von anderen großen Führern in der Welt, u.a. von Mao, Ceaucesco und Honecker, erhalten hat. Kuriositäten sind dabei: ein kindergroßer Teddybär mit FDJ-Hemd, ein Jagdgewehr Erich Honeckers sowie diverse nutzlose Mitbringsel westdeutscher kommunistischer Studienzirkel aus den 70er Jahren, die der nordkoreanischen Variante des Kommunismus ihre Solidarität bezeugen wollten. Wir beneiden das nordkoreanische Volk um diesen von der ganzen Welt geliebten Führer, der so selbstlos ist, daß er all diese Geschenke seinem Volk vermacht und in riesigen Ausstellungsräumen zur Verfügung gestellt hat, anstatt sie in sein Privateigentum zu übernehmen. Koreaner bemitleiden uns Westler darum, daß wir  einen solchen Führer nicht besitzen.

Den abschließenden Höhepunkt unserer Führung durch die Geschenkhallen bildet eine Begegnung besonderer Art. Unser allgegenwärtiger Übersetzer und Schlapphut, der sich zu unserer Sicherheit ständig in unserer Gegenwart aufhält, fordert uns auf, nach Betreten des nur für uns geöffneten Saales – andere Besucher waren nicht anwesend – Haltung anzunehmen. Das schwere Portal wird geöffnet: da steht er, der Leibhaftige, auf einer großen Wiese, umsäumt von violett blühenden Azaleen, schneebedeckte Berge am Horizont. Sanfte Hintergrundmusik unterstreicht den paradiesischen Charakter dieser skurrilen Szene. So muß das Paradies aussehen, in dem sich der Große Führer nun befindet. Unsere beiden Begleiter, überzeugte Juche-Anhänger, nehmen Haltung an vor dieser Wachsfigur und verneigen sich devot. Juche, eine vom Führer entwickelte Lehre, ist die philosophische Grundlage für den Isolationismus und ökonomischen Niedergang dieses Landes. Nordkorea will seinen sozialistischen Weg unbeeinflußt und unabhängig vom Rest der Welt ins Paradies finden. Nach Verlassen der Ausstellungsräume fühlen wir uns geehrt, als einzige Besucher dieses Heiligtum betreten zu haben.

Der für uns unvorstellbare Personenkult nimmt hier groteske Züge an: in einem Planetarium z.B. wird den Besuchern die Konstellation der Sterne am Geburtstag des Führers präsentiert. Auch ist eine Blumenart nach ihm benannt: die Kimilsongia.

Unsere Zeitreise aus diesem nur noch eine geringe Strecke vom Paradies entfernten Land des Jahres 1984 beenden wir mit einer Bahnfahrt im Schlafwagen nach Peking. Uns kommt China vor wie das Schlaraffenland.